Videokonferenzen in der Lehre

Geht’s hier nur um Video?

„Zoom-Vorlesungen“ und „Videokonferenzen“ sind fester Bestandteil des alltäglichen Sprachgebrauchs. Dennoch spreche ich lieber von oder „Live-Online-Lehre“ – weil wir uns mit den Teilnehmern in der Regel nicht nur per Videoübertragung verständigen, sondern in der Regel auch Audio-Verbindung, Text-Chats, Bildschirmfreigaben und weitere webbasierte Kanäle für die Zusammenarbeit nutzen.

Ist Live-Online-Lehre wie Präsenzlehre – nur eben online?

Die Einschätzung von Lehrenden und Studierenden, ob Lehre im virtuellen Klassenzimmer ähnlich wie eine Präsenzveranstaltung erlebt wird, hängt davon ab, wie die Live-Online-Lehre didaktisch gestaltet ist und welche technischen Möglichkeiten für die Kommunikation und Interaktion genutzt werden. Trotz erfahrbarer Parallelen sind aus sozialwissenschaftlicher Perspektive deutliche Unterschiede zwischen Präsenz- und virtueller Kommunikation benennbar.

Obwohl sich die Möglichkeiten wechselseitiger Wahrnehmung durch das Aufkommen performanter Webkonferenzsysteme und die Entwicklung kreativer Methoden verändert und verbessert haben, ist das Erleben sozialer Präsenz und die Möglichkeit zur Selbstdarstellung in der Live-Online-Lehre eingeschränkt. Es herrscht weniger soziale Kontrolle und Aufmerksamkeitsspannen sind kürzer, so dass Lehreinheiten daraufhin entsprechend angepasst werden müssen. Auch ist das Erleben von Blickkontakt trotz Videoübertragung nicht möglich, weshalb es wichtig ist, Kommunikationsregeln aufzustellen und den Rollen- und Sprecherwechsel klar zu moderieren.

Darüber hinaus gehen mit der Videobildübertragung Belastungsfaktoren einher. Zum einen kann es sich ungünstig auf das Interaktionsgeschehen auswirken, permanent das eigene Videobild gespiegelt zu bekommen, da dieser nicht-natürliche Zustand das Beschäftigen mit der eigenen Inszenierung fördert (Tipp: Selbstansicht ausblenden, wenn technisch möglich). Zum anderen bringt die Ansicht, in der jede Person alle anderen Teilnehmer gleichzeitig sieht (während man in der Präsenz die meisten anderen nur von hinten oder von der Seite sieht), zu viele Informationen, die ablenken und nicht sinnvoll eingeordnet werden können.
Auch können (i.d.R. ungewollte) Audio- und Video-Mitschnitte unbeobachtet durchgeführt werden. Vor dem Hintergrund dieser Sachverhalte erscheint es sinnvoll, Videoübertragung gezielt zur Umsetzung bestimmter didaktischer Methoden einzusetzen und Teilnehmende im Umgang mit den Videoeinstellungen (Sprecher-/Galerieansicht, Selbstansicht, usw.) anzuleiten.

Da die Sachebene in der virtuellen Kommunikation in den Vordergrund rückt und Visualisierungen sowohl von Teilnehmenden als auch von Dozierenden leicht ausgetauscht, kann in der Live-Online-Lehre methodisch und medial sehr abwechslungsreich gearbeitet werden. Mit Werkzeugen wie Umfragen, Chat und Zeichenwerkzeuge/Whiteboard können schriftliche Beiträge erhoben werden. Dadurch kann zum einen Zeit gespart werden (wenn Personen gleichzeitig schreiben), zum anderen können Teilnehmende, die sich mündlich nicht so gut äußern können oder möchten, adäquat beteiligt werden.

Wie kann Live-Online-Lehre dem Format entsprechend gestaltet werden?

Aufgrund der oben dargestellten Besonderheiten sollte Live-Online-Lehre nicht auf die oft herbeigesehnte, Non-Stop-Videoübertragung aller Teilnehmer reduziert werden, zumal diese ohnehin nicht erzwungen werden kann. Die Unterschiede in der Kommunikationssituation zeigen ferner, dass Präsenzveranstaltungen nicht 1:1 in virtuelle Räume übertragen werden sollten. Dennoch ist Live-Online-Lehre keine Lehre zweiter Klasse, sondern eine „andere“ Lehre, die ihre Stärken genauso mitbringt wie ihre Bedingungen. Neben technischen Voraussetzungen gilt es vor allem die Didaktik auf den Prüfstand zu stellen: Aufgrund der kürzeren Aufmerksamkeitsspannen und des Ablenkungspotenzials eignet sich synchrone Online-Lehre nur bedingt für umfangreiche Vorlesungen / Vorträge / Frontalunterricht, bei denen Teilnehmer eine rezipierende Rolle einnehmen.

Vielmehr entfaltet Live-Online-Lehre ihr Potenzial in interaktiven und kooperativen Lernaktivitäten, weshalb sie sich gut mit einer Flipped-Classroom-Didaktik kombinieren lässt. Werden die technischen Möglichkeiten zur Interaktion genutzt und Online-Lehrveranstaltungen so gestaltet, dass die Teilnehmenden stark am Lehrprozess beteiligt sind (Abfragen, Gruppenarbeiten, Quizze, Brainwritings, Umfragen, Tafelbilder, etc), empfinden Lehrende und Studierende die Live-Online-Lehre „wie eine Präsenzveranstaltung“ – mit dem angenehmen Begleitumstand, dass man sich das Zugticket spart und für Gruppenarbeiten keine Möbel rücken muss.

Fazit: Ein anderes Mindset für eine andere Form der Lehre! Wenn wir Live-Online-Lehre vor dem Hintergrund ihrer Möglichkeiten betrachten anstatt vor dem Hintergrund ihrer Unzulänglichkeiten, kann sich dies positiv auf die Gestaltung und Umsetzung dieses Lehrformats auswirken. Durch die Zerlegung von Unterrichtsstoff in kleinere Lehreinheiten, den Einsatz von Maßnahmen zum Aufbau von Nähe und Vertrauen im virtuellen Raum sowie durch hohe Beteiligung der Lerner mit aktivierenden Methoden, lassen sich sehr interaktive, persönlich ansprechende und produktive Online-Lehrveranstaltungen gestalten, die enorme räumliche Flexibilität bieten, die digitalen Kompetenzen der Studierenden fördern und auch den Lehrpersonen Spaß machen.

Warum ist Live-Online-Lehre ein interessantes Lehrformat?

Im Vergleich zu anderen E-Learning-Formaten, die auf die Distribution von Lernmedien und/oder zeitversetzte Kommunikation fokussieren, bringt Live-Online-Lehre aufgrund der im Stundenplan festgehaltenen (wöchentlichen) Termine mehr Verbindlichkeit in den Lernprozess der Studierenden. Definierte Zeitfenster korrespondieren zudem mit der Systematik der Deputatsabrechnung auf Seite der Lehrperson.

Für Zielgruppen, die aus beruflichen, familiären oder gesundheitlichen Gründen eingeschränkt sind, um (regelmäßig) Präsenztermine am Campus wahrzunehmen, wird die Teilnahme an Lehrveranstaltungen durch Live-Online-Lehre erleichtert. Auch Lehrbeauftragte und Experten, die ihren Wohnort nicht in der Nähe der Hochschule haben, können dieses Format einsetzen, um geografische Entfernungen zu überwinden. Live-Online-Lehre schafft Kontakt trotz räumlicher Distanz.

Live-Online-Lehre erleichtert die Interaktion in Großgruppen. Wissenstests per Abstimmungswerkzeug oder Umfragen über den Text-Chat können in Online-Veranstaltungen durchgeführt werden, ohne dass auf ein anderes Medium gewechselt werden muss. Gruppenarbeiten können leichter und schneller organisiert werden, ohne dass geeignete Seminarräume gefunden, räumliche Gegebenheiten angepasst oder physische Hilfsmittel (z.B. Flipcharts, Pinnwände) bereitgestellt werden müssen. Durch eine interaktive Gestaltung der Live-Online-Lehrveranstaltung mit hoher Beteiligung der Studierenden kann verhindert werden, dass die Teilnehmer hinter dem Bildschirm aus der Spur geraten oder gar verschwinden.

Live-Online-Lehre fördert die digitalen Kompetenzen der Studierenden. Das Kommunizieren und Interagieren in Webkonferenzsystemen ist vielen Studierenden oft nur aus privaten (1:1) Videochats bekannt. Mit Live-Online-Lehre haben Professor*innen und Lehrbeauftragte die Chance, ihren Studierenden Beispiele und Übungsgelegenheiten zu bieten, wie sie in virtuellen Räumen interaktiv und produktiv zusammenarbeiten können. Dies ist eine digitale Kompetenz, die in der Arbeitswelt dringend benötigt wird (z.B. Online-Meetings bei räumlich verteilten Teams).

Nicht zuletzt schafft das Format (außerhalb von Corona-Zeiten) eine Abwechslung zu herkömmlichen Präsenzveranstaltungen. Hierzu liegen zahlreiche positive Rückmeldungen von Studierenden vor.

Ist Live-Streaming auch eine Videokonferenz?

Ja, auch Live-Übertragungen zwischen Hörsälen werden technisch als Videokonferenz umgesetzt. Aber: Unter Live-Online-Lehre wird hier NICHT das Live-Streaming von Präsenzlehrveranstaltungen per Videoübertragung verstanden, bei denen zwei oder mehr Teilnehmergruppen aus verschiedenen Hörsälen bzw. Standorten unter unterschiedlichen technischen und psychologischen Voraussetzungen an einer Veranstaltung teilnehmen.

Live-Online-Lehre meint synchrone Online-Veranstaltungen, an denen jede Person von ihrem eigenen Arbeitsplatz und Endgerät aus über das Internet teilnimmt. Durch dieses Setting können alle Teilnehmer unter demselben „virtuellen Dach“ integriert und einbezogen werden. Jeder Teilnehmer erhält dieselben technischen und psychologischen Chancen, mit der Lehrperson und mit anderen Studierenden zu kommunizieren und zu interagieren. Bei der Live-Online-Lehre ist der Dozent jedem Studierenden „gleich nah“ und die Wahrnehmung von getrennten Gruppen („Wir hier am Campus X, die dort am Campus Y“) wird vermieden.

Ist asynchrone Online-Lehre überholt?

Nein. Der Wert asynchroner Formate, bei denen es keine festen Veranstaltungstermine gibt, liegt darin, dass sowohl Lehrende als auch Studierende Bearbeitungszeit und Tempo flexibler auf die eigenen Bedürfnisse anpassen können. Beispielsweise haben Studierende Einfluss auf den konkreten Zeitpunkt für das Durcharbeiten eines Skripts / Lernvideos oder das Bearbeiten einer Aufgabe. Auch können sie sich beim Verfassen eines Diskussionsbeitrags mehr Zeit lassen als in synchronen Settings. Das Mehr an Zeit zum Nachdenken und Reflektieren kann sich positiv auf die Quantität und Qualität eines Beitrags auswirken. Lernaktivitäten, die auf schriftlicher Kommunikation basieren, können genutzt werden, um die akademische Schreibkompetenz der Studierenden zu fördern. Darüber hinaus können asynchrone Formate technisch niederschwelliger aufgesetzt und auch bei ungünstigen Rahmenbedingungen der Beteiligten (z.B. schwache Internetverbindung) durchgeführt werden. Nichtsdestotrotz erfordern Formate mit zeitversetzter Kommunikation mehr Eigenverantwortung und Selbstdisziplin vom Lerner, so dass die Eignung asynchroner Settings je nach Zielgruppe und Fachgebiet variiert. Selbstverständlich können im Sinne von „Blended Learning“ asynchrone und synchrone Formate gewinnbringend miteinander kombiniert werden.

Fazit

Die Wahl der Mittel hängt von Ihren Lehr-/ Lernzielen ab. Setzen Sie diejenigen Methoden und (klassischen oder digitalen) Medien ein, die Ihre Vorstellung guter Lehre am besten unterstützt!